Ich kann nicht sagen, dass es mich dringend nach Champagner verlangt. Und ein dringendes Verlangen nach Champagner würde in der marokkanischen Provinz auch zweifellos unglücklich machen. Aber ich habe schon das Gefühl, dem Moment irgendwie gerecht werden zu müssen. Der Moment, das ist die Nachricht vom Tod Jörg Haiders, die mich per SMS erreicht. Ich bin aufgewühlt, will mehr wissen oder es zumindest ganz vielen Menschen erzählen. Aber außer meiner Freundin ist da niemand. Denn das Dadestal ist, trotz seiner alpinen Topographie, ein schlechter Ort für politische Diskussionen über Österreich.
Der Tag beginnt schon wirr. Ich schlafe schlecht, weil es im Zimmer zu dunkel ist. Wir sind in einer Kasbah hoch auf einer Klippe über dem Vallée des Roses untergekommen, in deren dicken Wänden es so komplett duster ist, dass mir schwindelig davon wird. Zur totalen Dunkelheit kommt eine totale Ruhe. In den dicken Lehmwänden der Kasbah fühle ich mich wie in einem Sarg. (Einem Sarg, den ich, im Gegensatz zu anderen Personen in jener Nacht, morgens aber wieder verlasse.)
Aber es hilft alles nichts, wir wollen es an diesem Tag bis nach Erfoud schaffen. Erfoud ist weit und die Straßenqualität so wechselhaft und unvorhersehbar wie der eigene Verdauungstrakt nach einem lokalen Fleischgericht. Außerdem liegen auf der Strecke einige der tiefsten Schluchten des Hohen Atlas, was spektakuläre Natur und abgeschiedene Ecken für die spontane Notdurft verspricht. Also schnell die Müdigkeit und die allgegenwärtigen Kinder abschütteln, rein in den Mietwagen, rauf auf die Straße.
Ab dem Dadestal und jener SMS fühlt sich alles etwas komisch an. Draußen ziehen Städte aus Lehm und Oasen aus Dattelpalmen vorbei, aber als hätten wir thematisch auf Innenluft gestellt, kommt im Mietwagen nichts davon an. Stattdessen sprechen wir über Haider und fragen uns, ob man sich über den Tod eines Menschen freuen darf. Als wir an einem jungen Kamel vorbeikommen, will meine Freundin ein Foto von sich neben dem Tier. Natürlich ist das Ganze ein Trick, ein paar Männer erscheinen und verlangen Geld. Meine Freundin ist mittlerweile aber ganz gut darin, unverschämte Marokkaner abzuweisen, kauft ihnen stattdessen ein Tuch ab und ich kann weiter über Jörg Haiders Tod sinnieren. (Fun Fact: Haider ist ein häufiger arabischer Familienname)
Ein paar Kilometer weiter, in der Todraschlucht, sehen wir einen Pick-up, der bei einer Flussdurchquerung im braunen Wasser stecken bleibt. Autounfälle, denke ich, so divers wie das Leben selbst. Dann fahren wir weiter.
Irgendwann machen wir in irgendeiner Stadt Mittag. Das Essen im einzigen Restaurant des Ortes gestaltet sich anstrengend, da der erfreute Restaurantbesitzer darauf besteht, an unserem Tisch zu sitzen. Einerseits natürlich sehr freundlich, andererseits auch etwas aufdringlich, zudem unser Französisch auch nicht mehr als seichten Smalltalk zulässt. Und ihn auch das höfliche Gespräch nicht vom saftigen Overchargen abhält.
Am Ende hat er aber noch einen guten Tipp für uns: In einer Nebenstraße gebe es eine Fabrik, in der marokkanische Frauen Teppiche wöben. Beim Thema Teppiche sind wir seit Casablanca und Marrakesch vorsichtig, solche Gespräche driften schneller ins Kommerzielle ab als Deutschrap-Acts der Neunziger. Aber hier, in diesem winzigen Ort und zudem von unserem neuen Freund empfohlen? Wir machen klar, dass wir nichts kaufen wollen, er ist damit einverstanden, dann bringt er uns zu einem Haus.
In der Fabrik sieht alles erstaunlich nach Privathaus aus. Ein marokkanisches Ehepaar setzt sich mit uns in ein karges Wohnzimmer. Wir bekommen knallsüßen Minztee und plaudern. Irgendwann fängt der Mann an, Teppiche auszubreiten. Wir machen sofort klar, dass wir nicht interessiert sind. Er findet das okay, aber seine Frau, die die Teppiche webe, sei so stolz darauf, sie wolle uns die Teppiche zeigen. Was dann aber er macht. Nach etwa dem zwanzigsten Teppich dämmert ihm, dass wir wirklich nichts kaufen werden, woraufhin er unwirsch wird. Schreiend verlangt er plötzlich Geld für den Tee, beschimpft uns noch etwas, dann verlässt er grußlos das Zimmer. Seine Frau, der das Ganze sichtlich peinlich ist, lässt uns schließlich hinaus.
Mittlerweile haben wir viel Zeit verloren und es ist noch weit nach Erfoud. An einer Kreuzung fragen wir einen Mann nach dem Weg. Er zeigt uns die Richtung, will dann aber mitfahren. Ich bin von der jüngsten Erfahrung aber noch zu misstrauisch und lasse ihn stehen. Na toll, neben die moralischen Selbstzweifel zum Tod Haiders gesellt sich in meinem Gewissen nun noch die Frage, ob ich die marokkanischen Männer im Großen und Ganzen schwierig finden darf. Wenn ich Reiseländer wie die Türkei als überdurchschnittlich freundlich wahrnehmen kann, muss es logischerweise auch unterdurchschnittlich nette Länder geben, damit die Rechnung aufgeht. Aber ist eine negative Einschätzung des Kollektivs nicht auch eine Vorverurteilung jedes Einzelnen? So fahre ich dahin. Irgendwann setzt die Dämmerung ein und meine Gewissensbisse weichen einer moralisch recht unverfänglichen Todesangst.
Im Reiseführer und auch sonst überall wird vor Überlandfahrten in der Dunkelheit gewarnt. Ich will kein Risiko eingehen und gebe deswegen Vollgas. Zumindest würde ich dies gerne tun, die Straße ist aber mittlerweile äußerst löchrig und großenteils unasphaltiert. Außerdem laufen überall Kinder und Esel und Kinder mit Eseln. Also doch abbremsen, gucken, hoffen, dass Erfoud nicht mehr weit ist. Zwischen den Ortschaften, just dort, wo man etwas schneller fahren kann, machen Männer den Pannentrick. Autos mit aufgeklappter Motorhaube täuschen einen Schaden vor, sie wollen bis zur nächsten Ortschaft mittrampen. Einmal im Auto versuchen sie dann, einen von diesem und jenem zu überzeugen oder zu einem Essen einzuladen, was dann kein gutes Ende nimmt. Sagt der Reiseführer. Ich kenne den Trick schon aus den vergangenen Tagen und fahre einfach vorbei, was sich in dieser Gegend aber als nicht ganz einfach herausstellt, da die Männer hier vors Auto springen, um mich zum Anhalten zu zwingen. Mehrmals muss ich im letzten Licht scharf bremsen und mich durch die Windschutzscheibe mit einem Mann anschreien, bis er zur Seite tritt.
Irgendwann ist es dunkel und wir noch nicht in Erfoud. Die ganze Reise über habe ich mich über die dunklen Gewänder vieler Marokkaner und deren majestätische Ausstrahlung gefreut. Jetzt wäre es mir ganz recht, wenn die traditionelle Berberkleidung Reflektorwesten wären. Mit 30 Stundenkilometern taste ich mich zwischen Kutten und Eseln hindurch, während teilweise unbeleuchtete Autos um mich herum schießen. Als wir in Erfoud ankommen, bin ich innerlich tot. Nicht Jörg-Haider-tot, aber doch ganz schön kaputt.
Erfoud muss man sich ähnlich vorstellen wie Erfurt, zumindest vom Namen. Ansonsten gleicht es einer Wildweststadt, irgendwo am Rand der Sahara. Wir mieten uns in einem Hotel ein, das im Reiseführer erwähnt ist, weil dort Frauen arbeiten. Die Lobby ist allerdings ein Herrencafé.
Die Herren im Café sind äußerst freundlich. Auf einem Fernseher läuft Fußball, es ist Länderspielabend. Ein Mann nimmt sich meiner an und schaltet unter dem Protest der anderen vom Spanienspiel aufs Deutschlandspiel. Dann ruft er mir unablässig die Namen von Spielern zu und versichert mir deren Qualität. „Schweinsteiger, très fort! Podolski, quel joueur!“ Ein Anderer erkundigt sich nach meinem Lieblingsverein. Als ich Eintracht Frankfurt nenne, rümpfte er abschätzig die Nase und verkündet dann stolz: „Moi: FC Barcelone.“ Glückwunsch!
Mehr und mehr Jugendliche kommen ins Café, viele in Marokkotrikots. Irgendwann fragt mein Schweinsteiger-Podolski-Freund höflich, ob er umschalten könne, die Mehrheit würde lieber das Marokkospiel sehen, das mittlerweile laufe. Gegen die verhassten Nachbarn aus Mauretanien. Klar, kein Problem.
Der Abend endet mit einer Hochzeitseinladung. Von einem der Fußballgucker, mitten aus dem Nichts. Eine arabische Hochzeit, irgendwo am Rande der Sahara – der Stoff, aus dem Individualtouristenträume sind. Andererseits ist die Aussicht, spätabends mit diesem völlig fremden Mann in die unbeleuchteten Straßen dieses Wüstennests zu verschwinden, nicht ganz bedenkenfrei. Kurz gesagt: Wir lehnen dankend ab. Wir werden niemals erfahren, ob wir damit das Highlight der Reise verpassen. Oder ob die Entscheidung uns davor bewahrt, am selben Tag wie Jörg Haider zu sterben.
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