Seit jeher führen Hessen und Japaner eine friedliche Koexistenz. In ihrer langen Geschichte sind beide Länder ganz gut damit gefahren, sich gegenseitig weitgehend zu ignorieren. Man sitzt unter der Kirsch- bzw. Apfelblüte, erfreut sich an seiner gewöhnungsbedürftigen Landesküche, gedenkt vielleicht kurz der Karrierestationen von Uwe Bein und bekommt ab und an eine amerikanische Bombe auf die Birne.
Manchmal nimmt man ganz kurz Notiz voneinander, wenn die Eintracht wieder mal „zur Erschließung neuer Märkte“ einen Japaner verpflichtet oder eine japanische Reisegruppe sich ins Rheintal verirrt. Das war’s aber auch schon mit der Freundschaft zwischen Honschu und Hanau, denn Hessen und Japan haben miteinander ungefähr so viel zu tun wie Brezel-Benno auf der Zeil mit dem japanischen Kaiser. Was wie ein völlig zufälliger Vergleich scheinen mag, doch der Stand wirbt tatsächlich mit dem Slogan „Was für Japan ist der Tenno, ist für Frankfurt Brezel-Benno.“ Trotzdem verfolgte mein Heimatbundesland mich durch einen kompletten Japanurlaub.
Damals war ich noch ziemlich jung und reiste sehr ambitioniert. Um mich bestmöglich einzustimmen, hatte ich mir in Frankfurt ein Buch von Haruki Murakami besorgt. Am ersten Abend in Japan, als ich kräftig fremdelnd auf meiner Bastmatte lag, las ich darin einen Abschnitt übers Reisen. Da stand, dass der Körper schneller den Ort wechsle als der Geist. Deswegen brauche der Reisende immer einige Zeit, bis er sich gedanklich vom Herkunftsort gelöst und sein Dasein am Zielort voll erfasst habe. Das kam mir in dem Moment wie die tiefgründigste Wahrheit der Welt vor. So verbrachte ich die ersten Tage in Kyoto damit, auf meinen Geist zu warten, der nach und nach den Weg von Frankfurt nach Japan zu bewältigen schien. Bis mich ein laut babbelnder Hesse zurück auf Los schickte.
Damals gab es noch kein WLAN, weswegen ich für ein bisschen Internet die Touristeninformation besuchte, die einige öffentliche Rechner besaß. Als ich den Raum betrat, schlug mir sofort der Wortschwall eines Mannes entgegen. Für die Japaner war es nur irgendein lauter westlicher Tourist, ich erkannte aber sofort die weichen Konsonanten, die fehlenden N-Endungen und die Ä-Laute meines Heimatdialekts.
Er war schon älter und diktierte einem Jugendlichen, wahrscheinlich seinem Enkel, schrecklich angeberische Mails an die Daheimgebliebenen. Eilig setzte ich mich an den Nachbarrechner. Die Onlineminuten waren horrend teuer und ich musste schließlich die wichtigsten Mir-geht’s-gut-Mails schreiben, das allgemeine Weltgeschehen erfassen und nachsehen, was sich bei der Eintracht so tat. Doch nichts von all dem gelang mir, denn neben mir wurden die Mails so laut und so hessisch diktiert, dass das gleichzeitige Zuhören, Fasziniertsein und Schämen meine Multitaskingfähigkeiten schon weit überschritten.
Inhaltlich waren seine Nachrichten alle recht ähnlich. „Hier in Kjoddo isses knaggisch wamm, Tembel sin schee, Esse is leggä.“ Ab und zu gab er seinem Enkel Rechtschreibhinweise („Schinkanse mit N am End, Pagod mit E“) oder erklärte, welchem Kollegen von der Stadtsparkasse Offenbach sie gerade schrieben.
Meine Mails fielen dann ähnlich kurz aus, das mit der Eintracht ließ ich ganz sein. Das Letzte, was ich hier wollte, war eine Diskussion darüber, auf welcher Mainseite der bessere Fußball gespielt werde. Ohnehin eine müßige Frage.
Anschließend begann die Arbeit an meiner geistigen Migration von neuem, was auch einigermaßen gelang, da mir in den folgenden zwei Wochen viel Japanisches und wenig Hessisches widerfuhr.
Die letzten Tage der Reise besuchte ich meinen damaligen Mitbewohner, der gerade ein Auslandssemester in Tokio abfeierte. Zum Begießen meiner Ankunft lud er seine internationalen Kommilitonen ein, die größtenteils westliche Japanologiestudenten und damit eher nerdige Gesellen waren. Unter ihnen befand sich ein junger Franke, der nüchtern recht still war, nach ein paar Asahi aber auftaute (und der, wie sich später herausstellte, ganz hervorragend japanische Schnulzen beim Karaoke zum Besten geben konnte). Der Junge war ein Sprachtalent: Er konnte nicht nur als Einziger in der Runde fließend Japanisch, sondern beherrschte aufgrund von Verwandten in der Region auch ein sehr passables Hessisch.
Ich fragte ihn, ob er Japanisch mit hessischem Akzent sprechen könne. Ja, das ginge theoretisch schon, aber lieber nicht. Zwei Bier lang überredete ich ihn, dann legte er los. Es war umwerfend. Während der Rest des Raumes sich wunderte, warum der eine so abstoßend redete und der andere vor Lachen grunzte.
Schließlich war der letzte Tag gekommen. Mein Mitbewohner war unterwegs, ich saß auf seinem Bett und sah fern. Ich suchte nach einem Sender, der etwas zu den heute stattfindenden Parlamentswahlen brachte. Ich hatte den halben Wahlkampf miterlebt, die schreienden Rechtsextremen in ihren Lautsprecherwagen, die Wahlplakate (von Koizumi hatte ich sogar eines für die heimische WG geklaut, weil der so elegant aussah). Doch als ich am Wahltag da war, zeigten alle Kanäle entweder Spielshows mit vielen bunten Einblendungen, Talk Shows mit vielen bunten Einblendungen oder Homeshopping mit vielen bunten Einblendungen. Bei einem Verkaufskanal blieb ich hängen, weil neben dem hektisch plappernden Moderator ein Westler mit einem Handfeger und einer Glühbirne in den Händen stand. In Japan gibt es sehr wenige Westler, ich wollte warten, ob er wohl gleich etwas auf Japanisch sagte.
Aber das tat er nicht. Stattdessen wartete er artig, bis der Moderator an ihn übergab. Dann legte er die Glühbirne auf eine Fußmatte. Er trat die Glühbirne kaputt und rieb die Scherben mit der Schuhsohle in die Matte hinein. Wortlos. Dann nahm er den Handfeger, der offensichtlich das beworbene Produkt darstellte, und fegte die Glühbirnenscherben aus dem Fußabtreter. Plötzlich begann er zu sprechen. Und wie! „Habtä gesehe, wie isch de Gliebern neigetrede hab? Aamol dribbergefeschd un restlos weg!“ Er strich mit der Hand mehrmals über die komplett von Scherben befreite Matte. „Des tät isch ja net mache, wenn isch net hunnertprozendisch wüsst, dass die Scherbbe weg sin. Isch bin ja net lebbesmüd.“
Die geistige Rückkehr nach Hessen ging dann übrigens sehr schnell.
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